Systemische Erschöpfung

Neulich habe ich mir beim Gewichtheben eine Rückenverletzung zugezogen. Ich konnte drei Tage lang nicht vom Bett aufstehen und habe jeden Tag 14 Stunden geschlafen. Dabei ist mir der Unterschied zwischen „lokaler“ und „systemischer“ Erschöpfung klar geworden. Die Verletzung beim Gewichtheben, genauso wie viele andere Verletzungen und Unfälle auch, ist mir in einem Zustand großer systemischer Erschöpfung passiert, den ich an dem Tag allerdings nicht als solchen erkannt und gewürdigt habe.

In diesem Artikel möchte ich die Konzepte von systemischen und lokalen Ressourcen einführen, und aufzeigen, was aus dem Zusammenspiel der beiden für das tägliche Wohlbefinden und unsere Gesundheit folgt. Dabei sind hier mit Ressourcen Energiereserven gemeint, deren Abwesenheit sich in verschiedenen Formen von Erschöpfung spürbar macht. Schauen wir uns ein paar Beispiele an, um zu verstehen was damit gemeint ist.

Am einfachsten nachzuvollziehen ist vermutlich das Konzept der lokalen Erschöpfung. Als Beispiel sei hier die klassische Liegestütze genannt. Je nach Fitnesslevel macht man eine, zehn, oder 50 Liegestützen, aber dann ist Schluss, und man kriegt einfach keine weitere Liegestütze hin: Die Kraft in den Oberarmen ist vollständig erschöpft. Wenn man nun ein paar Minuten wartet, dann kann man wieder ein paar weitere Liegestütze machen, bevor die Oberarme wieder erschöpft sind. Die Erschöpfung ist hier lokal auf die Oberarme begrenzt, und die Ressourcen, welche die Bewegung möglich machen, sind nach ein paar Minuten wieder teilweise aufgefüllt.
Das Konzept der Lokalität ist dabei nicht auf Muskelarbeit begrenzt. Auch Geistesarbeit kann lokale Ressourcen erschöpfen. Nach einem langen Examen ist die Fähigkeit zur Konzentration erschöpft. Eine lange Autobahnfahrt mit viel Verkehr erschöpft die Wachsamkeit. Ebenso können Emotionen erschöpft werden: Nach einer Stunde Zureden auf den starrsinnigen Vater kann sich die eigene Geduld erschöpfen, und man fängt an zu schreien.
Dabei ist völlig klar, das man nach einem langen Arbeitstag am Computer, wenn der Fokus erschöpft ist, trotzdem noch Liegestütze machen kann, da hier verschiedene lokale Ressourcen beansprucht werden.

Anders verhält sich das bei systemischen Ressourcen. Hier gibt es nur einen Topf, aus dem man sich bedienen kann! Was also sind systemische Ressourcen, wofür werden sie verwendet, und wie macht sich systemische Erschöpfung bemerkbar?
Um wieder zum einfachen Beispiel der Liegestütze zurückzukommen: Systemische Ressourcen sind das, was die lokalen Ressourcen wieder auffüllt. Systemische Ressourcen werden auch benutzt, um nach der Anstrengung den Muskelaufbau zu betreiben. Mit anderen Worten, Erholung und Wachstum.
Auch bei Infektionskrankheiten werden systemische Ressourcen vom Immunsystem benötigt, um die Krankheit in den Griff zu bekommen. Bei Verletzung werden systemische Ressourcen für die Heilung benötigt, also Energie für das Wachstum neuer Zellen. Der Körper besitzt hier eine eigene Intelligenz, und normalerweise hat man bei Krankheit oder schwerer Verletzung ja auch überhaupt keine Lust ins Fitnessstudio zu gehen oder eine lange Autofahrt zu machen, denn das würde wiederum lokale Ressourcen erschöpfen (die ja durchaus noch vorhanden sind), diese müssten aber wieder durch systemische aufgefüllt werden, und diese verwendet der Körper lieber für das Immunsystem und Heilung. Stattdessen will man eigentlich nur schlafen und sich ausruhen, was auch schon aufzeigt wie sich systemische Ressourcen am besten regenerieren: Durch Ruhe und Schlaf.

Was passiert nun, wenn man seine lokalen Ressourcen absichtlich oder unabsichtlich erschöpft hat, z.B. im Training beim Sport oder während eines anstrengenden Arbeitstages, man aber keine Pause machen kann oder will? Oder wenn die lokalen Ressourcen für eine Belastung nicht ausreichen? Ein gutes Beispiel ist hier ein Marathonlauf. Wer schon mal einen Marathon gelaufen ist (oder alternativ eine sehr lange Wanderung), der weiß aus eigener Erfahrung, dass irgendwann ein Punkt kommt an dem es „an die Substanz“ geht. Das ist genau der Punkt an dem die lokalen Ressourcen erschöpft sind, und der Körper die Belastung nun aus der eigenen Substanz bestreitet. Das heißt in diesem Kontext, dass der Körper gezwungen ist, systemische Ressourcen als inneffizienten Ersatz für lokale Ressourcen herzunehmen. Bei diesem Prozess kommt es zu lokalen Schäden im belasteten Gewebe, deren Heilung sich nach dem Laufen als Muskelkater und Wundsein in Bändern und Sehnen manifestiert. Reichen in einem solchen Überlastungsfall auch die systemischen Ressourcen nicht aus, so kommt es zur Verletzung und damit zum forcierten Abbruch der Belastung.

Systemische Ressourcen können sich z.B. durch permanenten Stress und wenig oder schlechten Schlaf erschöpfen, aber auch durch „Überaktivität“ ohne ausreichende Erholungsphasen, also Überbeanspruchung der lokalen Ressourcen. Generell werden systemische Ressourcen beansprucht, wann immer wir ein „zu viel“ an Aktivität oder Belastung verspüren. Anders als lokale Ressourcen, welche für eine bestimmte Aktivität gemacht und durch diese erschöpft werden, sind systemische Ressourcen vielfältig einsetzbar und erschöpfbar, z.B. durch Dauerstress, „Überaktivität“, zu wenig Schlaf, Krankheit und Verletzung.

Was kann man nun aus diesen Betrachtungen für den Umgang mit dem eigenen Energiehaushalt ableiten? 

  • Systemische Ressourcen sind für Wachstum, Erneuerung und Heilung zuständig. Diese Vorgänge sind die Basis für unser Wohlbefinden und sollten demnach möglichst ideal funktionieren. Schlüssel dafür ist immer ausreichend systemische Ressourcen vorzuhalten, einerseits durch Schlaf und Ruhepausen (Einnahmeseite) und andererseits durch kluges Haushalten mit den eigenen Ressourcen (Ausgabenseite).
  • Lokale Ressourcen sind für eine spezifische Aufgabe gemacht, z.B. Muskel- oder Gedankenarbeit. Diese wollen und müssen in einem gesunden Organismus regelmäßig genutzt werden. Allerdings nur wenn ausreichend systemische Ressourcen vorhanden sind um lokale Ressourcen wieder aufzufüllen (Erholung) und neue bereitzustellen (Wachstum).
  • Werden lokale und systemische Ressourcen gleichzeitig erschöpft, z.B. durch hohe Belastung bei Krankheit, Übertraining, oder lang andauerndem Stress, so steigt das Verletzungs- und Unfallrisiko sprunghaft an.

Nun ist Schlaf leider etwas, das viele Menschen in unserer hyperaktiven und chronisch gestressten Zeit oft hinten anstellen, weil sie Angst haben, sonst mit dem Leben nicht hinterherzukommen. Und scheinbar gibt es ja auch immer gute Gründe, warum man sich jetzt gerade (noch) nicht ausruhen kann: Die Kinder wollen versorgt werden. Die Kunden müssen betreut werden. Die Arbeit kann nicht warten. Und und und. Der gestresste Mensch ist ausgezeichnet darin, seine systemische Erschöpfung vor sich selbst zu rechtfertigen.

Falls auch Du regelmäßig unter systemischer Erschöpfung leidest, dann hat Dir dieser Artikel hoffentlich geholfen diese als solche zu erkennen, und Dir Mut gemacht, die Auffüllung Deiner eigenen systemischen Ressourcen durch Schlaf und Ruhephasen zu priorisieren.

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